Ein Beitrag von Maret Nieländer
Homeschooling im Umfang wie jetzt zu COVID-19-Zeiten gab es noch nie. Ohne Vorläufer ist es allerdings nicht. Auch früher lernten Kinder und Jugendliche an unterschiedlichen Orten – der größte Unterschied von damals zu heute ist wohl der Zugang zu Lehrmaterialien. Noch vor hundert Jahren stand Schüler*innen oft nur ein einziges Schulbuch als Wissensquelle zur Verfügung. Heute gibt es eine schier unendliche Vielzahl von Medien. Selbst ein großer Teil der historischen Schulbücher wurde retrodigitalisiert und ist nun online frei zugänglich. Die Bildungsmedien von vor-vor-gestern laden ein zum Eintauchen in die Vergangenheit und zur Reflexion über das, was man zu lernen hat(te).
Mehr als 7000 meist deutschsprachige Schulbücher, publiziert zwischen 1696 („Universal-Historie“ und „Conspectus Geographiae. Abbildung der Erd-Beschreibung“ und 1921 („Deutsches Lesebuch für Mädchen-Mittelschulen: Haus und Vaterland I„) gibt es mittlerweile in der digitalen Schulbuchbibliothek GEI-Digital. Das gleichnamige Projekt retrodigitalisiert und erschließt seit 2009 fortlaufend historische Schulbücher aus den Beständen des Georg-Eckert-Instituts sowie ausgewählte Leihgaben(( Hertling, Anke; Klaes, Sebastian (2018): Historische Schulbücher als digitales Korpus für die Forschung: Auswahl und Aufbau einer digitalen Schulbuchbibliothek. In: Maret Nieländer und Ernesto William de Luca (Hg.): Digital Humanities in der internationalen Schulbuchforschung. Göttingen: V&R unipress, S. 21-44. DOI: 10.14220/9783737009539.21 )).
Der Schwerpunkt liegt dabei auf Büchern für besonders „sinnbildende“ und kulturhistorisch relevante Fächer: Geschichts- und Erdkundeunterricht, Fibeln, Realienkunde und Lesebücher. Durch diese Retrodigitalisierung können die Schulbücher anhand ihrer Metadaten und Volltexten recherchiert und durchsucht werden und sich auf diese Art wieder zu den born-digital Bildungsmedien gesellen.
- Wie unterschieden sich Erziehungsziele und Lehrinhalte von Dorfschulen und städtischen Gymnasien?
- Wie portraitierte man fremde Kulturen, wie bewertete man zeitgenössische Konflikte, wie erklärte man die „eigene“ Gesellschaft?
- Was steht in Büchern für „Töchterschulen“, und wie unterscheiden sich die Lehrbücher für Schüler*innen bestimmter Konfessionen?
Die digitale Schulbuchbibliothek lädt ein zum Stöbern und Vergleichen, denn die Schulbücher gestatten einen tiefen Einblick in die damals vorhandenen Wissensbestände und Meinungen. Hier steht, was die Gesellschaft für so richtig und wichtig – bzw. Autor, Verlag und Obrigkeit als so angemessen und verkäuflich – hielt, dass es der nächsten Generation vermittelt werden sollte. Die Retro-Bücher von vorvorgestern werden somit Quellen, an denen heute Schüler*innen selber forschen können. Ob Biologie, Religion oder Gesellschaftskunde: In praktisch jedem Fach kann es sich lohnen zu schauen, was Kinder und Jugendliche in verschiedenen deutschsprachigen Territorien während Absolutismus und Aufklärung, im Kaiserreich oder während des ersten Weltkrieges über ein Thema „zu wissen bekamen“. Beispiele von aktuellem Interesse wären Themen wie „Quarantäne“ und „Impfungen“.
Eine historische Praxis: Die Quarantäne
Eine Suche nach dem Begriff „Quarantäne“ in GEI-Digital zeigt, dass es in größeren Städten, in Handelshäfen, üblich war, besondere Einrichtungen für eine standardmäßige Quarantäne vorzuhalten. Es finden sich aber auch Beschreibungen, Gründe und Folgen von Nichteinhaltung solcher Quarantänen. In einem Geschichtsbuch von 1845 wird ein Ausbruch von Gelbfieber 1818 während der Regentschaft Ferdinands VII. (1784-1833) in Spanien beschrieben:
„Ein königliches Schiff war nämlich aus der Havanna mit einer reichen Ladung von Piastern, Silberbarren etc. im Hafen von Cadix angekommen. Geldmangel und Habsucht wirkten in gleichem Maße, die ordnungsmäßige Quarantäne abzukürzen, welche das Schiff zu halten hatte, und der Erfolg war, daß durch die mit dem schrecklichen gelben Fieber behaftetete Mannschaft die Seuche nach Cadix und den andalusischen Küsten gebracht ward. Cordons wurden gezogen, als der Tod in Cadix und den umliegenden Gegenden täglich schon mehr als hundert Opfer forderte. Öffentliche Gebete und Prozessionen wurden angestellt, aber thätige Hilfe und Unterstützung blieben aus. So stieg die Seuche stufenweis. Bald war sie auf der Flotte und unter den Landtruppen; und trotz der geschärftesten Vorsichtsmaßregeln desertirten die Soldaten haufenweise in’s Innere des Landes, brachten die Pestseuche mit dahin und verbreiteten Jammer und Elend, wohin sie kamen.“
Fortmann, Heinrich: Denkwürdigkeiten aus der Menschen- und Völkergeschichte. Bd. 7, Leipzig: Kollmann 1845, S. 8.
In einem württembergischen Schulbuch von 1839 wird ebenfalls eine Verletzung von Quarantäne-Regelungen erwähnt – diesmal allerdings als Sinnbild und Ausdruck der Begeisterung über die Rückkehr Napoleons von einem Feldzug:
„[…] umsonst erinnerte Napoleon an die Quarantäne: man trug ihn ans Land, unter dem Geschrei: „lieber die Pest als die Oestreicher!“
Bauer, Ludwig Amandus, Allgemeine Weltgeschichte für alle Stände, Bd. 6, Stuttgart: Belser 1839, S. 338.
Eine historische Neuerung: Impfungen
Auch ohne genaue medizinische Kenntnis von Krankheitserregern und Übertragungswegen, war die Praxis der Quarantäne offenbar allgemein bekannt und zumindest grundsätzlich akzeptiert. Die Möglichkeit einer Impfung hingegen war um 1800 eine historische Neuerung.
Eine Suche nach dem Stichwort „Impfung“ im Schulbuchkorpus von GEI-Digital ergibt zurzeit mehr als 200 Treffer. Als historisch bedeutsame Erfindung fand sie Eingang in die Geschichtsschulbücher. Aber auch in Büchern zu Realienkunde ist das Stichwort prominent, nämlich in Kapiteln mit Überschriften wie „Gesundheitslehre“ oder „Betrachtungen des menschlichen Körpers“, die offenbar ein fester Bestandteil dieser Art von Schulbuch waren. Die früheste Erwähnung einer Schutzimpfung findet sich in Der Westphälische Kinderfreund von Carl Christoph Gottlieb Zerrenner (1780-1851) aus dem Jahr 1811. Seit etwa 1800 wurde auch in Deutschland mit Pockenimpfungen experimentiert, und Zerrenner schreibt, im Anschluss an eine Schilderung verlustreicher Pest- und Pockenepidemien:
„Die Impfung macht gar keine Schmerzen: es entstehen auf der geimpften Stelle einige Pocken, und niemand stirbt an dieser Krankheit.“
Doch offenbar musste Zerrenner auch Skepsis und Kritik begegnen. Er schrieb weiter:
„Da die Schutzblattern allerlei andere Uebel nach sich ziehen sollen, ist ungegründet, so wie es eine thörichte Behauptung ist, daß tue Ausrottung der Menschenblattern Schuld an der jetzt so häufigen Bösartigkeit des Scharlachfiebers sei.
Zerrenner, Carl Christoph Gottlieb Der Westphälische Kinderfreund, ein Lesebuch für Volksschulen. Halle: Kümmel 1811, S. 161-162.
Wer sein Kind nicht bei Zeiten mit diesen Schutzblattern impfen läßt, kann leicht der Mörder desselben und der Mörder vieler anderer Menschen werden; denn wenn es selbst, oder andere durch dasselbe angesteckte Kinder an den Menschenblattern sterben, so ist er Schuld an ihrem Tode. Ueberdies aber darf nach einem sehr weisen Gesetze unseres Landes kein Kind in eine Schule, in die Lehre, zur Konfirmation u.s.w. aufgenommen werden, wenn es nicht den Schein eines Arztes vorzeigen kann, daß es entweder die Menschen- oder die Schutzblattern gehabt habe.“
Die Obrigkeit schrieb Impfungen vor und Zerrenners Kinderfreund fungierte hier als Medium der Volksaufklärung. Mit diesem Auftrag und Selbstverständnis stand der Schulbuchautor nicht alleine da. In seinem Vorwort finden sich Auskünfte über seine Quellen:
„Mit Dankbarkeit habe ich bei meiner Arbeit die Werke unserer besten Jugendschriftsteller und mehrere andere vorzügliche Schriften benutzt, und dies besonders in dem ersten Abschnitte des Buchs.“
Ebd., S. VI.
Hier bietet sich natürlich ein Vergleich mit zeitgenössischen Büchern an. Und tatsächlich, wenn man weiter in der digitalen Schulbuchbibliothek stöbert, merkt man schnell, dass „Kinderfreunde“ eine eigene Gattung bildeten. Ein besonders berühmtes und langlebiges Werk war Der deutsche Kinderfreund von Friedrich Phillipp Wilmsen (1770-1831). In GEI-Digital finden sich zum Beispiel die 11. Auflage (von 1810) und die 226.Auflage (von 1888) dieses „Lesebuch[s] für Volksschulen“.
Wenn man nun die Werke Wilmsens und Zerrenners vergleicht, fällt auf, dass nicht nur Themen und Gliederung praktisch deckungsgleich sind, sondern auch der Text oft 1:1 übernommen wurde.
Zerrenner nutzte die Werke von Wilmsen und anderen quasi als „Open Educational Ressources“ – er übernahm große Teile und entwickelte sie an einigen Stellen weiter. Bezüglich der „Gesundheitslehre“ schreibt er im Vorwort:
„Daß ich die in Westphalen wachsenden Giftpflanzen weitläufiger, als dies sonst in ähnlichen Schulbüchern geschehen ist, abgehandelt, und daß ich der Gesundheitslehre eine kurze Anweisung, Todtscheinende zu retten, so wie zu einem verständigen Verhalten in einigen der gefährlichsten und gewöhnlichsten Krankheiten beigefügt habe, wird hoffentlich niemand mißbilligen.“
Ebd. S. VI.
Auch der oben zitierte Hinweis auf einen Pockenimpfstoff war eine solche Erweiterung von Wilmsens Text – der im übrigen seinerseits auf anderen Texten basierte. Auch Wilmsen selbst erwähnte in seinem Vorwort seine Quellen, was auch als eine Berufung auf wissenschaftliche Autoritäten verstanden werden kann:
„Bei dem Abschnitte von der Gesundheitslehre liegt Fausts Gesundheits-Katechismus zum Grunde. Die Zusätze hat Hildebrandt’s Taschenbuch für die Gesundheit geliefert.“
Ebd., S. IV.
Die Inhalte der genannten Werke hatte Wilmsen für den Kinderfreund auf 30 Seiten kondensiert. Wie man vermeidet, krank zu werden, fasste er darin für die Schüler*innen noch einmal auf einer halben Seite zusammen:
Und auch wenn Wilmsen schrieb, dass es ihn „herzlich freuen“ würde, wenn sein eigenes Werk „recht bald durch ein vollkommneres Schulbuch verdrängt werden sollte“ (Ebd.,Vorwort, S. III) – Zerrenners Weiterentwicklung setzte sich nicht durch. Wilmsens „Original“ erwies sich als außerordentlich lang-, um nicht zu sagen zählebiger Verkaufsschlager. 1888 erschien posthum die 226. Auflage. Dort findet sich fast der gesamte Text der „Gesundheitslehre“ unverändert wie fast 80 Jahre zuvor; und die relevanteste der wenigen Streichungen ist die Entfernung des Ratschlags, Zahnschmerzen mit Rhabarber oder durch Schröpfen und Blutegel zu kurieren.
Der Vergleich von Werken wie derjenigen Zerrenners und Wilmsens kann zeigen, dass Schulbücher einerseits auf neuste wissenschaftliche Erkenntnisse, politische Entwicklungen und didaktische Konzepte schnell reagieren konnten, aber andererseits auch eigene Traditionen ausbildeten, die dann wiederum behäbig daher kamen. „Der Wilmsen“ jedenfalls scheint zu einer Marke geworden zu sein, die die Kontinuität – bzw. Stagnation – der Lehre über viele Generationen gewährleistete.
Lust auf mehr?
Die in diesem Blogbeitrag erwähnten Werke, und auch die darin genannten Vorbilder und Quellen, lassen sich zum Beispiel über den Gemeinsamen Verbundkatalog recherchieren: https://kxp.k10plus.de/
Neben den Such- und Filterfunktionen von GEI-Digital steht für einen Teil des Bestandes auch eine elaboriertere Rechercheumgebung zur Verfügung. Im Projekt Welt der Kinder wurden weitere Metadaten erhoben und verschiedene Werkzeuge der Digital Humanities integriert. Das Korpus und den dazugehörigen „Explorer“ finden Sie hier: http://wdk.gei.de/
Die Bibliothek für bildungsgeschichtliche Forschung des DIPF stellt mit Pictura Paedagogica Online (PPO) historisches Bildmaterial zur Bildungsgeschichte bereit:
http://opac.bbf.dipf.de/virtuellesbildarchiv/
Weitere historische pädagogische Schriften, vor allem Zeitschriften, findet man im digitalen Textarchiv zur Bildungsgeschichte des deutschsprachigen Raums Scripta Paedagogica Online (SPO): https://scripta.bbf.dipf.de
Historische und aktuelle Lehrpläne aus aller Welt kann man in der Curricula Workstation recherchieren und einsehen:
https://curricula-workstation.edumeres.net/
Foto von Lorenzo Herrera auf Unsplash.