… und dem Gefühl wieder gebraucht zu werden.
Ein Beitrag von Julie Lüpkes (ZeMKI, Universität Bremen)
Ich weiß noch genau, wie ich mich nach den ersten zwei Wochen Lockdown gefühlt habe: leer, einsam und vor allem irgendwie nutzlos. Während draußen nur noch die „Systemrelevanten“ beschäftigt waren, konnte ich nur drinnen sitzen und auf mein nächstes Onlineseminar warten. Meine Hobbies und Ehrenämter waren wegen Corona erstmal auf Eis gelegt. Im März wurde ich dann von einer Freundin auf die Initiative „Corona School“ aufmerksam gemacht, die gerade noch in den Kinderschuhen steckte. Ich beschloss sofort, mich als Freiwillige zu melden.
Ich selbst bin Masterstudentin der Medienwissenschaften an der HBK Braunschweig und studentische Hilfskraft am Georg-Eckert-Institut. Beide Rollen muss ich derzeit im Homeoffice wahrnehmen, was manchmal ganz interessant, aber schnell auch sehr eintönig wird. Seit ich mich Ende März bei der digitalen Initiative Corona School e.V. als Tutorin engagiere, kommt zum Glück etwas Abwechslung in meinen Pandemie-Alltag: Als ehrenamtliche „Behelfslehrerin“ habe ich bisher viele spannende Erfahrungen gemacht, von denen ich hier berichten möchte.
Was ist Corona School?
Der inzwischen eingetragene Verein „Corona School e.V.„ vermittelt seit den Schul-Lockdowns Schüler*innen, die aufgrund der Schulschließungen zuhause lernen müssen, an ehrenamtliche Studierende, die ihnen bei der Bearbeitung ihrer Aufgaben helfen. Das läuft folgendermaßen ab: Studierende (egal welcher Fachrichtung) registrieren sich auf der Website und geben dort die Fächer an, in denen sie helfen möchten. Bei einem Kennlerngespräch mit jemandem aus dem Screening-Team der Plattform werden sie mit den Richtlinien der Seite vertraut gemacht und eventuelle Beschränkungen bei den zu betreuenden Jahrgangsstufen werden geklärt. Bei Schüler*innen mit Hilfebedarf läuft dies ähnlich ab. Sie registrieren sich und geben ihre Jahrgangsstufe und die betroffenen Fächer an. Einen Screening-Prozess durchlaufen sie aber nicht. Der Algorithmus der Plattform „matcht“ die beiden Parteien dann miteinander und arrangiert ein erstes virtuelles Treffen. Nach diesem Treffen können diese selbstständig entscheiden, wie und wo die Zusammenarbeit stattfinden soll.
Die Vermittlung via Corona School e.V. ist für alle Beteiligten kostenlos, da die Studierenden ehrenamtlich agieren. Ziel der Initiative ist es, Schüler*innen und Eltern in dieser herausfordernden Zeit zu entlasten. Auf seiner Website schreibt der Verein hierzu: „Wir sind davon überzeugt, dass es in diesen Zeiten nicht ums Geld, sondern um Solidarität gehen sollte. Daher arbeiten alle unsere Student*innen ehrenamtlich. Somit wollen wir während der Corona-Krise eine virtuelle Lernumgebung ermöglichen, die für alle zugänglich ist und Lernenden und ihren Eltern hilft, sich in der neuen Situation besser zurechtzufinden.“
Bisher wird der Service hervorragend angenommen: über 12.000 Schüler*innen und mehr als 9.000 Studierende haben sich bereits registriert (Stand: 19.06.2020), zahlreiche Medien haben über die Plattform berichtet und Politiker*innen wie etwa der Bundespräsident Frank Walter Steinmeier lobten die Initiative aller Beteiligten. Laut Angaben der Presseabteilung nutzen vor allem viele Schüler*innen aus den Abschlussklassen und den Klassenstufen 8 und 9 die Vermittlung, während Grundschüler*innen eher weniger vertreten sind. Die Fächer Mathe, Deutsch und Englisch sind besonders gefragt. Über genaue Studiengangsverteilungen der Tutor*innen kann der Verein aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Auskunft geben.
Von den Herausforderungen für Lernende und Lehrende
Nach meinem Screening-Gespräch wurde ich an Jonas, einen Gymnasiasten in der 13. Klasse einer Waldorfschule in Baden-Württemberg, vermittelt. Er stand kurz vor seinen schriftlichen Abi-Prüfungen, als der Lockdown seine Schule schloss. Ohne zu wissen, ob sein Abi überhaupt stattfinden würde, war er plötzlich mit seinem Lernstoff mehr oder weniger auf sich allein gestellt. Ob nun „mehr“ oder „weniger“, hing vor allem von seinem Prüfungsfach und der Initiative seiner dortigen Fachlehrer*innen ab, die sich nun ebenfalls von heute auf morgen auf einen digitalen Unterricht einstellen mussten. Jonas und mir wurde schnell klar, dass hier gewaltige Unterschiede im Umgang mit dieser Situation zwischen den Lehrer*innen herrschte: der junge Deutschlehrer setzte direkt einen eigenen Blog und mehrere Online-Folder auf, um seine Deutschklasse auf dem Laufenden zu halten, Aufgaben zu verteilen und Inhalte zu erklären. Von der Englischlehrerin gab es immerhin ein paar Aufgaben per Mail. Und der Geschichtslehrer? Von dem hörte Jonas eine ganze Weile lang gar nichts.
Vom Gefühl, doch nützen zu können
Jonas uns ich machten uns direkt an die Arbeit. Gemeinsam setzten wir für die drei Fächer Lernziele fest und ermittelten den jeweiligen Lernstand. Im Orga-Tool Trello legten wir dann nach und nach verschiedene Aufgaben an. Um mir erstmal einen Überblick über den Prüfungsstoff zu verschaffen, suchte ich nach den Abiturrichtlinien auf dem Landesbildungsserver Baden-Württemberg, der mir noch aus meiner Zeit als Medienkauffrau in einem Bildungsmedienverlag vertraut war. Aus diesem Material erstellte ich Aufgaben, Lernlisten und Übersichten, die Jonas nach und nach abarbeiten konnte.
Seine Ergebnisse besprachen wir zweimal wöchentlich per Videochat. Hier gab ich ihm Feedback zu seinen Ausarbeitungen, klärte offene Fragen und besprach mit ihm neue Aufgaben. Als Mitte Mai klar war, dass das Abitur stattfinden würde und es in die „heiße Phase“ ging, standen vor allem Probeklausuren auf unseren To-Do-Listen. Für ein paar Tage durfte Jonas dann sogar noch in die Schule kommen und sich letzte Tipps von seinen Lehrkräften abholen.
Ende Mai wurde es dann ernst: Jonas schrieb erst Deutsch, dann Mathe (worauf er sich selbstständig vorbereitet hatte), Englisch und schließlich Geschichte.
Nach seinen Klausuren trafen wir uns noch einmal zum gemütlichen Tratsch, in dem wir endlich mal über etwas mehr als nur das Abi reden konnten. Wir diskutierten über seinen und meinen Werdegang, über Digitalisierung und darüber, was wir uns für die Zukunft wünschen. Verabschieden wollten wir uns dann aber doch noch nicht, denn bald stehen für Jonas noch die mündlichen Prüfungen in Russisch und Kunstgeschichte an, bei deren Vorbereitung ich ihn unterstützen werde.
Wie geht es jetzt mit Corona School weiter?
Nicht nur für Jonas und mich, auch für den Verein geht es auch nach den Teilöffnungen der Schulen weiter. Laut Kaiya Reisch, Teil des „Corona School“-Presseteams, seien die Anmeldungen zwar zurückgegangen, aber nach wie vor stetig. Schüler*innen seien auch jetzt noch oft auf sich alleine gestellt und müssen vieles selber erarbeiten. Und selbst wenn die Pandemie eines Tages ganz überwunden sein sollte, wird der Verein seine Arbeit fortsetzen: „Die Corona School wird es auch noch nach der Corona-Pandemie geben. Z.B. finden im Sommer AGs statt. Informationen dazu werden diese Woche auf unseren sozialen Medien noch veröffentlicht. Außerdem soll die Unterstützung insbesondere diejenigen betreffen, die keine finanziellen Möglichkeiten für eine Lernunterstützung haben und soll zudem eine Art Orientierung für Abschlussschüler*innen bieten“, so Kaiya. Vor wenigen Tagen hat der Verein zudem angekündigt, langfristig mit dem Bildungsministerium Rheinland-Pfalz kooperieren zu wollen. Dies könnte zum Beispiel darin bestehen, die Digitalisierung von Schule weiter voranzutreiben, denn die Corona School zeige laut Kaiya schon jetzt, „dass eine digitalisierte Form der Lehre durchaus möglich ist. Trotzdem handelt es sich hier ’nur‘ um eine Lernunterstützung und es werden auch hier Schwierigkeiten deutlich, wie zum Beispiel, dass nicht jedes Kind technische Endgeräte besitzt und/oder damit umgehen kann“. Es gibt also auch für den Verein noch einige Baustellen, Hürden und Zukunftsprojekte, die es zu bewältigen gilt.
Von der Erkenntnis, auch selbst etwas gelernt zu haben
Was habe ich eigentlich aus der ganzen Sache gelernt? Neben pädagogischen und organisatorischen Skills habe ich mir vor allem eins angeeignet, während ich Jonas auf sein Abi vorbereitete: die Hochachtung vor dem Beruf der Lehrkraft. All die Vor- und Nachbereitung unseres „Behelfsunterrichts“ war ein ganz schöner Batzen Arbeit, denn ich sah das Ganze nicht als gelegentliche „Nachhilfe“ an, sondern als vollwertigen Ersatz tatsächlicher schulischer Präsenzlehre. Vor allem als auch für mich das Online-Semester losging, wurde es ganz schön viel. Dennoch würde ich diese Erfahrung immer wieder machen wollen.
Foto von Annie Spratt auf Unsplash