Ein Beitrag von Barbara Christophe
„Nicht nur historische Spiele sind unweigerlich politisch, weil sie manches thematisieren und anderes ausblenden. Auch Analysen von Spielen sind natürlich genauso politisch.“ So die Erinnerungskulturforscherin Barbara Christophe als Einstieg in das Thema der historischen Computerspiele. In diesem Gastbeitrag teilt sie mit uns ihre Überlegungen über die erinnerungskulturellen und geschichtsdidaktischen Leerstellen, die das historische Strategiespiel über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Through The Darkest of Times, besetzt.
Erinnerungskulturelle und didaktische Leerstellen überwinden
Wenn ich jetzt den Versuch unternehme, mit ein paar wenigen Bemerkungen in die Diskussion einzuführen, dann bewege ich mich dabei auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Ich gucke auf das mediale Format und auf die narrative Struktur von Through the Darkest of Times (TTDOT). Das sind, glaube ich, die zwei entscheidenden Perspektiven, aus denen man so ein Spiel untersuchen kann, wenn man sich – wie ich – vornehmlich dafür interessiert, welche erinnerungskulturellen und didaktischen Leerstellen es besetzt. Um meine Leitfrage ein bisschen anders zu formulieren: Ich will darüber nachdenken, welche Defizite und Schwachstellen in den bisherigen Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus TTDOT zu überwinden verspricht und welche neuen blinden Flecken es genau dadurch vielleicht schafft.
Dazu nur noch einen Satz vorweg: Es ist natürlich gar nicht so einfach, festzustellen, woran es in deutschen Debatten um den NS noch fehlt. Um das kurz zu illustrieren: Just im letzten Jahr sind zwei Publikationen auf den Markt gekommen, die in ihren Urteilen nicht gegensätzlicher sein könnten: Die amerikanische Philosophin Susan Neiman (2020), die zurzeit Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums ist, behauptet, von Deutschland könne man und insbesondere die USA lernen, wie man mit einer beschämenden Vergangenheit umgeht. In klarem Gegensatz dazu meint der deutsche Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn (2020), derzeit Gastprofessor für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, zeigen zu können, dass die Schuld am Nationalsozialismus im deutschen Diskurs eigentlich immer abgewehrt worden sei. Was lernen wir daraus? Nicht nur historische Spiele sind unweigerlich politisch, weil sie manches thematisieren und anderes ausblenden. Auch Analysen von Spielen sind natürlich genauso politisch.
Das mediale Format
Ich fang mal mit dem medialen Format an. Through the Darkest of Times (TTDOT) ist ein Simulationsspiel mit historischem Bezug. Die Stärke solcher Spiele, ich glaube darüber besteht Konsens, besteht weniger darin, ein authentisches und akkurates Bild von der Vergangenheit zu zeigen. Das können wir schon daran sehen, dass es in diesem Genre viele kontrafaktische Spiele gibt. Die Lernchancen liegen also eher woanders. Der Kulturwissenschaftler und Spieleforscher Andrew Elliott (2017) hat einmal gesagt, dass Spieler*innen in solchen Spielen ähnlich agieren müssen wie Historiker*innen. Um den nächsten Spielzug machen zu können, müssen sie beständig Hypothesen darüber aufstellen, was unter bestimmten Umständen wahrscheinlich geschehen wird und welche Folgen die Entscheidungen, die sie treffen müssen, aller Voraussicht nach haben werden. Und all dies müssen sie unter den Bedingungen unvollständiger Informationen machen, weil sie ähnlich wie Historiker*innen, die etwa Achim Saupe (2009) nicht von ungefähr mit Detektivinnen verglichen worden sind, nur eine Handvoll Indizien und ihre Imaginationskraft haben, um unvollständige Fragmente zu einem halbwegs plausiblen Gesamtbild zusammenzusetzen.
Was heißt das für TTDOT? Was lernt man beim Entscheiden, Hypothesen Bilden und historischen Denken mit TTDOT?
Schnellurteilen entgegenwirken
Ich möchte zunächst einen Aspekt herausgreifen, den ich v.a. deshalb ganz besonders wichtig finde, weil er einem aus der Hüfte geschossenen Schnellurteil entgegenwirkt, auf das man im deutschen Geschichtsunterricht mitunter trifft, wenn Schüler*innen ganz automatisch davon ausgehen, dass sie im Nationalsozialismus natürlich im Widerstand gewesen wären.
Ich glaube, Personen, die so denken, können durch das Spiel produktiv irritiert werden, weil sie immer wieder lernen, dass Widerstand etwas Einfaches ist, das schwer zu machen ist. Man kann Fehler machen und diese Fehler können einem Gefängnis oder sogar Folter eintragen. Und wenn man im Spiel zu viele solcher Fehler macht, riskiert man die Auflösung seiner Widerstandsgruppe
V.a. aber, und das ist vielleicht noch wichtiger, steht man als Widerstandskämpferin in dem Spiel immer wieder vor schwierigen Dilemmata, weil man sich z.B. fragt, ob man einem alten Mann helfen soll, der von SA-Leuten angegriffen wird oder ob es klüger ist, sich nicht zu exponieren, um nicht die nächste Aktion zu gefährden, die die eigene Gruppe plant.
Ich glaube, das ist auch über den Nationalsozialismus hinaus eine ganz wichtige Einsicht, die zu Empathie mit Menschen führen kann, die in schwierigen Situationen schwierige Entscheidungen treffen müssen. Ich selber arbeite viel zur Erinnerung an den sowjetischen Sozialismus in Osteuropa; neue Studien haben hier gezeigt, dass Dissidenten im Alltag mitunter ganz besonders angepasst und konformistisch waren, weil sie bestrebt sein mussten, nicht die Aufmerksamkeit des KGB auf sich zu ziehen. Diese zwar logische, aber einigermaßen unerwartete Einsicht, die gründlich mit weit verbreiteten Annahmen und Stereotypen bricht, vermittelt TTDOT ganz unaufgeregt und beiläufig.
Dilemmata und echte Multiperspektivität
Genau so beiläufig und unaufgeregt lässt das Spiel genau an dieser Stelle noch ein weiteres erinnerungskulturelles und geschichtsdidaktisches Desiderat ein. Gerade in der Auseinandersetzung mit Dilemma-Situationen ist es konsequent multi-perspektivisch. Als Spielerin wird man im Spielverlauf immer wieder in Diskussionen mit Personen verwickelt, die unterschiedliche Handlungsvorschläge machen. Während einige argumentieren, müsse man im Zweifelfall auch bereit sein, punktuell mit dem Regime zu kooperieren, wenn man dadurch die Chance hat, konkret bedrohten Menschen zu helfen, sagen andere, der NS sei so unmenschlich, den müsse man in jeder Situation kompromisslos bekämpfen. Aus meiner Sicht sind das die besten Momente in dem Spiel. Und zwar aus zwei Gründen.
Erstens inszeniert das Spiel hier echte Multiperspektivität und unterscheidet sich wohltuend von vielen Schulbüchern, in denen Multiperspektivität oft so aussieht, dass man als Leser*innen vornehmlich Positionen von dusseligen Nationalist*innen und Rassist*innen vorgesetzt bekommt, die man einfach verwerfen kann. Was oft fehlt, ist die Auseinandersetzung mit Perspektiven, die gegensätzlich, aber gleichzeitig allesamt moralisch anerkennungsfähig und logisch plausibel sind.
Genau das tut TTDOT. Und indem es das tut, konfrontiert es Spieler*innen zweitens mit echten Entscheidungsproblemen, mit echten moralischen Herausforderungen, für die es keine einfachen und eindeutigen Lösungen gibt. Nach allem was wir aus einigen Studien wissen, scheitert schulischer Geschichtsunterricht über den NS mitunter deshalb, weil er Schüler*innen schlüsselfertige moralische Positionen serviert, statt sie als moralisch urteilsfähige Personen ernst zu nehmen und zu adressieren. TTDOT setzt hier Gott sei Dank ganz andere Akzente und bietet etwas an, das man mit Bill Niven (2016) als postdidaktische Erinnerungskultur bezeichnen können, also als eine Erinnerungskultur, die nicht paternalistisch von oben vorgibt, wie man die Dinge zu sehen hat, sondern Aushandlungsprozesse mit offenem Ausgang initiiert.
Und auch erinnerungskulturelle Stereotype
Ganz zum Schluss möchte ich an einer Stelle noch einmal vorsichtig Kritik an der narrativen Struktur des Spiels üben. Der Literaturwissenschaftler Alfie Bown (2018) hat einmal gesagt, dass Spiele immer politisch seien, weil sie auf ideologischen Konstruktionen beruhten, Welten und Menschen auf eine bestimmte Art und Weise kategorisierten und den Spielerinnen mit all dem bestimmte Werte nahelegten, die zudem selten reflexiv gemacht, sondern im Spielverzug gewissermaßen automatisch und ohne großes nachdenken ratifiziert würden. Im Anschluss an, aber auch in Widerspruch zu Brown, der selber vornehmlich rechte Tendenzen in marktgängigen Spielen ausmacht, in denen man für gewöhnlich Aliens bekämpft, fremde Territorien unterwirf und Empire-building betreibt, möchte ich hervorheben, dass Spiele kulturelle Selbstverständlichkeiten reproduzieren oder irritieren können. Manchmal tun sie auch beides gleichzeitig.
Mit Blick auf TTDOT habe ich bislang auf die produktiven Irritationen abhoben, die es auslöst. An einer Stelle verstärkt das Spiel aus meiner Sicht aber auch erinnerungskulturelle Stereotypen. Indem es betont, wie riskant und frustrierend Opposition oft war, unterstützt es tendenziell auch die politisch problematische, aber sehr populäre Vorstellung von den Deutschen als den ersten Opfern Adolf Hitlers, eine Vorstellung, die ausblendet, dass viele Deutsche vom NS profitiert haben, weil sie z.B. die guten Möbel von deportierten jüdischen Familien bekamen oder im besetzten Polen zu Großgrundbesitzern wurden. All das blendet das Spiel zumindest am Anfang aus, wenn es in den ersten Sätzen heißt: „überall in Deutschland entschieden sich ganz normale Menschen ihr Leben zu riskieren, um anderen zu helfen und ein unmenschliches Regime zu bekämpfen.“
Aber das ist vielleicht auch das Produkt eines Dilemmas. Jedes Narrativ, so scheint mir, lässt einige Probleme und kreiert damit gleichzeitig wieder neue. Auch deshalb brauchen wir eine Vielzahl von Erzählungen, die allesamt ihre eigenen blinden Flecken produzieren, zusammengenommen aber genau diese blinden Flecken wenn auch nicht wegzaubern, so doch wenigstens zum Tanzen bringen können.
Zitierte Literatur
Susan Neiman. Von den Deutschen lernen: Wie Gesellschaften mit dem B?sen in ihrer Geschichte umgehen k?nnen. Hanser Verlag Berlin: 2020.
Samuel Salzborn. Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern, Leipzig/Berlin: Hentrich & Hentrich 2020.
Achim Saupe. Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker. Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman. Bielefeld: transcript-Verlag: 2009
Elliott, Andrew B. R. Simulations and Simulacra: History in Video Games. In: Proticas da Historia, Journal on Theory, Historiography and Uses of the Past, n° 5 (2017): 11-41.
Alfie Bown. How video games are fuelling the rise oft he far right. In: The Guardian, 12.3.2018 (URL:https://www.theguardian.com/commentisfree/2018/mar/12/video-games-fuel-rise-far-right-violent-misogynist
Sebastian Haas. Naziz?hler und Freiheit der Wissenschaft. Wie arbeiten wir unsere NS-Vergangenheit auf? Welche Rolle spielt die Forschung? Wissenschaftler diskutieren. Tagung „Endlich genug von Hitler? Aktuelle Debatten zur Vergangenheitsaufarbeitung“. Tutzing 03/16. (URL: https://www.apb-tutzing.de/news/2016/aufarbeitung-hitler.php)