Skalierung personalisierter Lernsysteme – Adaptivität von Lernsoftware

Eine Person fasst auf den Bildschirm eines Tablets

Gastbeitrag von Julie Lüpkes (ZeMKI, Universität Bremen) und Jasmin Troeger (Institut für Medienwissenschaften, Universität Paderborn)

Über adaptive Lernsysteme oder über das Konzept des „adaptiven Lernens“ mit digitalen Lernsystemen liest man häufig in Werbetexten, Medienberichten, Policy-Dokumenten oder Produktwebseiten. Doch was bedeutet Adaptivität genau und wie lassen sich die unterschiedlichen Formen und Ausprägungen von Adaptivität in Lernsoftware kartieren und skalieren? Im Rahmen des Projekts DATAFIED haben wir uns mit diesem Thema auseinandergesetzt und festgestellt, dass Adaptivität im Kontext von Lernsoftware ein umstrittenes Wort mit vielen unterschiedlichen Bedeutungen ist. Selbst in der Fachliteratur wird Adaptivität ganz unterschiedlich konzeptionell gefasst: Beispielsweise als Anpassungsfähigkeit eines Lernsystems an Lernbedürfnisse und -kontexte (Leutner, 2002, S. 4; Wauters et al., 2010, S. 549) oder als in Echtzeit reagierendes System, welches semi-automatisiert personalisierte Lerninhalte bereitstellt (Williamson, 2017, S. 7), beschrieben. Aber wie lassen sich diese Anpassungsfähigkeit oder Systeme für individualisiertes, personalisiertes Lernen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen erfassen und abgrenzen?

Um diese Frage zu beantworten, haben wir einige Skalierungsvorschläge in der Literatur (Brusilovsky & Peylo, 2003; Bulger, 2016; Groff, 2017; Seel & Ifenthaler, 2009; Shute & Zapata-Rivera, 2012) gesichtet, welche aber für die Produktpalette unserer Bildungsmarktrecherche nicht ausreichend waren. Deshalb haben wir eine eigene Skalierung entwickelt, die vor allem auf Arbeiten von Monica Bulger (2016) und Jennifer Groff (2017) aufbaut, aber auch eigens gewählte Abstufungen enthält.

Unsere Skala umfasst 8 Level, die von einfachen Systemen (Stufe 0) bis hin zu Cognitive (Deep Learning) Systems (Level 7), reichen. Wir haben das Level 4: autonome Systeme ohne Lehrkräfte ergänzt, da diese in bisherigen Skalen nicht differenziert aufgegriffen wurden, aber in unseren Augen eine eigene Kategorie darstellen sollte. Diese unterscheidet sich von Stufe 3 dadurch, dass die Systeme nicht auf die Entscheidung von Lehrpersonen zurückgreifen, sondern Entscheidungen über beispielsweise Lernwege oder Lernziele selbst übernimmt. Diese Unterscheidung war für uns wichtig, da wir uns u.a. mit der Frage nach der Verantwortung (Agency) in Lernprozessen befasst haben. Zudem haben wir die Skalierung um die Stufen 6 und 7 ergänzt, die aus jüngsten Entwicklungen rund um künstliche Intelligenz (KI) wie ChatGPT entnommen wurden und zeigen, dass digitale Lernsysteme irgendwann über ähnliche Fähigkeiten wie „menschliche Lehrkräfte“ verfügen könnten.

Zentral bei dem Aufbau der Level und der Unterscheidung einzelner Level ist: Je „autonomer“ die Maschine agiert, desto höher das Level. Das bedeutet, je mehr „Entscheidungen“ von der Maschine (oft wird hier von der „KI“ gesprochen) getroffen werden, desto höher das Level.

 
Skalierung nach Lüpkes & Troeger, angelehnt an Bulger & CCR (2019)

Level 0: (Customized Learning Interface) Nicht oder nur optisch anpassbare/personalisierbare Software

  • Software, die gar nicht personalisierbar ist, aber als Lernsoftware gilt
  • nur z.B. Farbschema oder Avatare sind personalisierbar, bis auf das Design passt sich aber sonst nichts den Lernenden an
  • Beispiel: fit fürs abi (Westermann Gruppe), Kahoot!

Level 1: (Learning Management) Organisatorisches Lernmanagement / LMS

  • Software, die eher zum tracken und organisieren gedacht ist als zum Zuweisen von Lerninhalten oder der Diagnose von Lernständen
  • Beispiel: mBook (Cornelsen)

Level 2: (Data-driven learning) Datenbasiertes Lernen (mit Lehrkraft)

  • Lerndaten werden gesammelt, müssen aber von der Lehrkraft evaluiert werden, sodass sie in der Software den Lernenden passende Lerninhalte zuweist
  • Beispiel: bettermarks, PearUp, ANTON

Level 3: (Data-driven learning) Datenbasiertes Lernen (ohne Lehrkraft)

  • Lerndaten werden gesammelt und von der Software selbst so evaluiert, dass sie Lerninhalte anpasst – Knotenpunkte im Entscheidungsbaum sind fest definiert
  • Beispiel: DuoLingo, Kapiert.de (Westermann Gruppe)

Level 4: (Adaptive learning) Adaptives Lernen

  • Lerndaten werden erhoben und analysiert und Lerninhalte basierend auf dieser Analyse den Nutzer*innen und ihren Lernbedürfnissen eigenständig angepasst
  • geht über eine reine Auswertung von wahr/falsch-Aufgaben durch das System hinaus, geschieht aber nicht zwangsweise mithilfe von maschinellem Lernen
  • Beispiel: Area9, Calcularis / Orthograph (Dybuster), Scobees

Level 5: (Intelligent Tutor) Intelligentes Tutorensystem

  • Maschineller Tutor auf Basis von künstlicher Intelligenz, der menschliche Interaktion imitiert und z.B. Gespräche mit den Lernenden führen kann
  • Beispiel: Feedbook (Westermann Gruppe), DeepTutor

Level 6: (Intelligent Game-Based Learning Environments) Intelligente Game-Based Lernumgebungen

  • Spielerische Kombination aus ITS, kognitiven Systemen und narrativen Technologien
  • Beispiel: Mangahigh (Westermann Gruppe), Classcraft

Level 7: Cognitive (Deep Learning) Systems – „Systeme der Zukunft“

  • Nutzt maschinelles Lernen, um naturalistische Mensch-Maschine-Interaktion zu erzeugen
  • Systeme können lesen, schreiben, menschliches Verhalten imitieren und lernen
  • Beispiel: Watson (IBM), ChatGPT (OpenAI)

Wir haben die Skala an einer interaktiven Karte erprobt, die adaptive Lernsysteme zeigt, die auf dem deutschen Markt angeboten werden. Über diesen Link gelangen Sie zur Karte. Die Karte ist nicht vollständig, aber wird von uns immer mal wieder um neue Lernsysteme ergänzt. Wir arbeiten gerade an einem Text, der die Skala wissenschaftlich einordnet und stellen die Ergebnisse auf der DGPuK Tagung im Juli 2023 vor.

Literatur

Brusilovsky, P., & Peylo, C. (2003). Adaptive and Intelligent Web-based Educational Systems. International Journal of Artificial Intelligence in Education, 13(2), 156–169.

Bulger, M. (2016). Personalized Learning: The conversations we’re not having. [Working Paper]. Data & Society Research Institute. https://datasociety.net/pubs/ecl/PersonalizedLearning_primer_2016.pdf

Groff, J. S. (2017). Personalized Learning: The State of the Field & Future Directions. Center for Curriculum Redesign. https://curriculumredesign.org/wp-content/uploads/PersonalizedLearning_CCR_May2017.pdf

Leutner, D. (2002). Adaptivität und Adaptierbarkeit multimedialer Lehr- und Informationssysteme. In L. J. Issing & P. Klimsa (Hrsg.), Information und Lernen mit Multimedia und Internet: Lehrbuch für Studium und Praxis (3., vollst. überarb. Aufl, S. 114–125). Beltz PVU. https://www.ph-freiburg.de/fileadmin/dateien/imb/mediendesign-ws0506/materialien/Adaptivitaet-und%20Adaptierbarkeit-multimedialer-Lehr-und-Informationssysteme.pdf

Seel, N. M., & Ifenthaler, D. (2009). Online lernen und lehren: Mit 9 Tabellen und 19 Aufgaben. Reinhardt.

Shute, V. J., & Zapata-Rivera, D. (2012). Adaptive Educational Systems. In P. J. Durlach & A. M. Lesgold (Hrsg.), Adaptive Technologies for Training and Education (S. 7–27). Cambridge University Press. https://www.cambridge.org/core/product/identifier/9781139049580%23c76903-1-1/type/book_part

Wauters, K., Desmet, P., & Van den Noortgate, W. (2010). Adaptive item-based learning environments based on the item response theory: Possibilities and challenges: Adaptive ITSs based on IRT. Journal of Computer Assisted Learning, 26(6), 549–562. https://doi.org/10.1111/j.1365-2729.2010.00368.x

Williamson, B. (2017). Big data in education: The digital future of learning, policy and practice (1st edition). SAGE Publications.